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Michel Fokine
Michel Fokine
(1880-1942)


Carina Ari, 1920
Carina Ari
(1920)


Inghelbrecht
Desiré-Émile Inghelbrecht, Carina Ari (1922)


Rêve (Dröm)
Rêve ("Dröm"), 1925

La danse pour les oiseaux, 1925
La danse pour les oiseaux ("Tanz für die Vögel"), 1925



Ode à la Rose
Kostümskizze für
"Ode till rosen"



Carina Ari 1930
Carina Ari 1930



Blå bergens dotter
Carina als
'Blå bergens dotter'
in "Månstrålen", 1934


Jan Moltzer, Carina Ari
Jan Moltzer und Carina


Jan Moltzer, Carina Ari
Jan und Carina an
den Niagarafällen

Über Carina Ari (1897-1970)

Carina 1897 Baby
Carina Jansson 1897


Carina, 6
Carina mit 6 Jahren


Carina, 12
Carina mit 12 Jahren


Carina, 1915
Carina als Kosacke 1915


Carina Ari, Jean Börlin
Carina mit Jean Börlin,
Stockholmer Oper


Carina Ari, 1917
Carina ("Sylfide") 1917


Carina Ari, 1921
Carina Ari 1921


Rolf de Maré
Rolf de Maré im Théâtre de Champs Elysées, Paris


Serge Diaghilev
Serge de Diaghilew (1872-1929), Gründer der Ballets Russes, (Vorbild für Les Ballets Suédois)


Carina Ari, Dårhuset

Carina Ari war eine Ballerina mit einem ungewöhnlich reichem Register. Außerdem hatte Sie eine natürliche Bühnenpräsenz. Sobald Carina auftrat, zog sie die Blicke der Zuschauer an sich, selbst wenn andere hervorragende Tänzer auch dort waren, jeder mit eigener origineller Choreographie, was bei Maison des Fous (Das Irrenhaus) extrem deutlich wurde. Für einen großen Bühnenkünstler ist diese Naturbegabung ein wichtiges Instrument. Die Bühnenpräsenz lässt sich nicht methodisch erlernen, man hat sie oder man hat sie nicht.

In der Zeit mit dem Schwedischen Ballett machte sich Carina einen Namen als Solist in Paris, wie auch in den vielen anderen Städten, in denen Gastspiele durchgeführt wurden. Carina konnte noch lange Zeit später an allen diesen Orten damit rechnen, dass man sich noch an sie erinnerte, und kehrte zuweilen mit ihrem Soloprogramm zurück.




Carina Ari 1925
1925
Carina Ari 1925


Affisch

Die Stadionballette


In Stockholm wurde es Tradition, einen "Tag der Kinder" im großen Sportstadion zu feieren. Dies geschah bisweilen auch mit der Inszenierung eines Massenauftritts von tanzenden Kindern und Jugendlichen. 1918 hatte Fokine einige äußerst spektakuläre "Kollossalballette" aufgeführt: Die Jahreszeiten und Die Mondscheinsonate. Natürlich mussten zur Füllung der riesigen Flächen auch Amateurtänzer und Schüler herangezogen werden. Man engagierte Schulklassen, die besonders darin unterwiesen wurden, wie man eine Kollektivbewegung ausführt.

Die Masse der Mitwirkenden und die Synchronität der Bewegungen hatte einen gewaltigen Ornamental-Effekt. Das Prinzip, viele Mitwirkende ihre Bewegungen unisono ausführen zu lassen, ist en altes choreographisches Stilmittel, das auch in Werken wie Schwanensee und Bajadere angewendet wurde. Eine kommerzielle Show kam durch den pensionierten englischen Sergeanten John Tiller zu Stande, der mit den Tiller Girls die Welt der Cabarets begeisterte und bis heute Nachahmer findet.

Carina hatte natürlich Fokines Massenchoreographien im Stadion von Stockholm gesehen, ja sie war möglicherweise bei einigen selbst mit dabei, und nahm sich dieser "Show" im September 1923 gerne an (da sie zu dieser Zeit auch gerade wieder "frei" war). Das Wetter spielte mit und die den Volkstanz betonenden Massentänze hatten jubelnde Resonanz. Sie bekam 1929 und 1930 nochmals den Auftrag für die Gestaltung des Spektakels und hatte dafür mehr als 2.000 Tänzer, von denen (am "Tag des Kindes"!) die meisten jüngeren Alters waren.


Stadion 1929
"Farbenspiel"; Stockholmer Stadion 1929


1930
Carina Ari 1930


Månstrålen
Probe zu "Månstrålen"
mit Serge Peretti, Camille Bos
und Carina Ari, re.(1934)


1932
1933
Carina mit Ihren Schülern in Paris, 1932 (o.) 1933 (u.)


Sulamit, 1938
Carina Ari als "Sulamit" in "Le Cantique des Cantiques", 1938


1939
Carina Ari 1939


Jan Moltzer, Bols
Jan Moltzer, Bols
Mit Rohprodukten für den Likör

BOLS Likör Reklamegag

1950
Carina Ari 1950


Carina Ari mit einer Büste des Operndirektors Harald André im Atelier in Buenos Aires (1950)
Carina Ari mit einer Büste des Operndirektors Harald André im Atelier in Buenos Aires (1950)


Carina Ari, Ende der 60er Jahre
Carina Ari, Ende der 1960er Jahre
(Foto: Dagens Bild)


Carina Ari
Carina Ari
(14. April 1897 - 24. Dezember 1970)

Das Testament


In den von Carina Ari selbst vorgegebenen Bestimmungen setzte sie als Stiftungsvorstand einige ihrer vertrautesten Freunde auf Lebenszeit ein. Andere waren für die Zeit ihres aktiven Tänzer- oder Berufsleben eingesetzt; Der Direktor der Stockholmer Oper, ein Repräsentant des schwedischen Verbandes der Tanzpädogogen, und ein spezieller Regierungsvertreter.

Beim Freiwerden eines Vorstandsplatzes bestimmte zunächst die schwedische Regierung die Neubesetzung. Außerdem sind drei Wirtschaftsprüfer mit der Überwachung der Finanzen betraut. Heute erfolgt die Leitung der Stiftungen nach den Bestimmungen der schwedischen Stiftungsregeln und der Vorstand beschließt die Nachfolge von Vorstandsmitgliedern selbst.

Das von Carina Ari hinterlassene Vermögen belief sich zum Zeitpunkt ihres Todes auf 12 Millionen Schwedenkronen. Seither konnte das Vermögen der drei Fonds auf rund 100 Millionen anwachsen und bildet damit einen der größten Stiftungsfonds seiner Art.

In all den Jahren wurden vom Gedächtnisfonds Tausende von Stipendien an junge Tänzer vergeben, ein halbes hundert ältere Tänzer bekamen regelmäßige Ehrenstipendien, und es konnte ein wachsendes Interesse für seriöse Forschungsprojekte angeregt werden. Dabei war es möglich, besonders internationale Bestrebungen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, das von der Tanzkunst ausgeht, zu fördern.


Von Bengt Häger


Carinas Leben hatte Höhen und Tiefen. Geboren als eines der vielen unglücklichen Kinder unter den Ärmsten der Armen, beschloss sie ihr Leben in Ruhm und Wohlstand, bewundert und geliebt.

Die ersten Schritte ihrer bemerkenswerten Laufbahn unternahm Carina im königlichen Theater zu Stockholm. Die Mutter meldete sie in der Ballettschule an, was zu dieser Zeit für Mädchen aus armen Verhältnissen die beste Chance bot. Zwar war "Tänzerin" kein besonders angesehener Beruf (im 19. Jahrhundert kam es nahezu der Prostitution gleich), doch die Ausbildung kostete nichts, und außerdem verdiente man dadurch bereits als Kind etwas Geld, da die Eleven der Ballettschule oft als Statisten bei Opernabenden eingesetzt wurden.

In Carinas Elternhaus war jedes Zubrot willkommen. Die Mutter war kränklich, der Vater unbekannt. Schwierige Verhältnisse können den Intellekt schärfen: Carina begann, Blumen zu kaufen und daraus geschmackvolle Buketts zu stecken. Diese verkaufte sie in der Stockholmer Altstadt an kleine Geschäfte und Handwerker, die damit die Auslagen und Ladengeschäfte dekorierten. Auf diese Geschäftsidee kam Carina im Alter von zehn oder elf Jahren - niemand hatte vorher an so etwas gedacht.

Fokine, Lehrer und Stimulans

Der Ballettunterricht der Stockholmer Opernschule war solide. Den zukünftigen Tänzern wurde gründlich der klassische, etwas steife Stil des vergangenen Jahrhunderts beigebracht. Von Choreographie hatte man bei der Leitung des Hauses noch nicht viel gehört. Das Ballettcorps wurde von den Opernregisseuren meist als Komparserie eingesetzt. Es sollte noch bis zum Ende des zweiten Weltkrieges dauern, bis den Tänzern das Recht zugesprochen wurde, sich ganz und gar ihrer eigenen Kunst zu widmen.

Ein Mann wies jedoch schon früher neue Wege auf: Der Russe Michel Fokine, der Erneuerer des Balletts. Und die Stockholmer Oper besaß die Klugheit, dieses Jahrhundertgenie zu einem Gastvertrag zu verpflichten.

Fokines Stil und seine Ideen bedeuteten eine außerordentliche Stimulans für die schwedischen Tänzer, die von Fokine unterrichtet wurden und seine Choreographien interpretieren durften. Doch bereits zwei Spielzeiten später verfiel das Opernballett wieder in die Resignation.

Ein Mitglied des Ballettcorps wollte sich nicht damit abfinden, die tänzerische Zukunft ohne vollwertige künstlerische Erfüllung zu sehen: Carina. Sie hatte sich gerade als Solistin des Opernballets etablieren können, nicht zuletzt durch das Lob des Meisters Fokine. Und nun gab sie die sichere Anstellung auf, nur um einer höchst ungewissen Zukunft entgegenzugehen. Im Jahr 1918 gab es ohnehin tiefgreifende Veränderungen. Der erste Weltkrieg endete, und in Russland brannte die Revolution. Michel Fokine war dem Wüten entflohen und gründete eine Privatschule in der Nähe von Kopenhagen. Carina gelang es, einen schwedischen Philanthropen zu überreden, ihr die damals beträchtliche Summe von 5.000 Kronen für ein Privatstudium an Fokines Schule zu geben. Der Philanthrop, der ansonsten kein besonderes Interesse an Tänzern hegte, spürte, hier jemanden vor sich zu haben, die wusste, was sie wollte, und das schien ihm zu imponieren. Carina sagte später oft, dass diese Spende das erste Ballettstipendium Schwedens war: "Was ich damit vom Meister Fokine lernen durfte, sowohl sein neuer dramatischer Bewegungsstil als auch die Denkweise eines Choreographen, all das wurde zum Kapital meines weiteren Lebens."

Carina Ari - Erotikon

Mauritz Stiller und "Erotikon"

Zurück in Stockholm, war Carina gleichwohl arbeitslos. Sie gab Unterricht für Gesellschaftstanz (eine üblicherweise ziemlich rentable Einnahmequelle, auch für klassische Tänzer). Eines Tages saß sie bei den Eltern einer Ihrer Schülerinnen zum Dinner und hatte als Tischnachbarn einen Filmregisseur. Es war der Entdecker der Garbo, Mauritz Stiller. "Erotikon" (Mauritz Stiller) 1920 Er war gerade an den Dreharbeiten für einen Film, bei dem die Hauptpersonen in die Oper zu gehen und in der Loge zu sitzen hatten. Irgendetwas mussten sie sich ja anschauen, und genau das war auch das Problem: Noch war der Film ohne Ton und in einem Stummfilm machen sich Opernsänger mit aufgerissenen Mündern, nur begleitet vom Kinopianisten, allenfalls komisch. Da war es schon besser, ein Ballett zu zeigen. Und Stiller fragte seine Tischdame um Rat, die nicht lange überlegte, ob sie sich für die Aufnahmen Zeit nehmen würde. "Doch wer soll die Bewegungen komponieren?" - "Das mache ich auch", versicherte Carina keck. "Ich wurde von Fokine als begabter Choreograph anerkannt!"

Und so geschah es. Stiller hatte keine Ahnung, welches Risiko er da einging, und Carina hatte eine genaue Vorstellung davon, was zu tun war. Die Choreographie war an sich nicht herausragend, doch durchgehend im östlich geprägten Stile Fokins. Carinas Tanz war sinnlich und entsprach in der übertriebenen Dramatik ganz der Art, wie man damals in Stummfilmen agierte. Diese Ballett-Einlage von Carina ist möglichwerweise diejenige Szene des Stiller-Films Erotikon (1920), die man sich heute am ehesten noch einmal anschauen kann.

Trotz des Filmauftritts war Carina weiterhin eine "freie" Tänzerin ohne festes Einkommen. Doch der große Sprung stand bevor. Die internationale Tanzwelt wartete...

Jean Börlin, Carina Ari, Rolf de Maré
Spanientournee des Schwedischen Balletts 1921.
Oben: Jean Börlin, darunter Carina Ari, und Direktor Rolf de Maré.
Jean und Carina tragen die Hüte des anderen, Der "Chef" behält seinen auf.

Paris - Ballets Suédois


Ein wohlhabender Kunstsammler, Rolf de Maré, hatte sich von Fokine überzeugen lassen, dass er in die Fußstapfen des brillianten Ballettimpresarios Diaghilew (Ballet Russes) treten sollte. Maré gründete ein "Ballet Suédois" in Paris, und dadurch konnte auch er ein Prominenter in der ansonsten für Ausländer schwerzugänglichen, snobistischen Pariser Welt werden. Als Maré dafür die jüngsten und besten Tänzer von der Stockholmer Oper rekrutierte, war Carina selbstredend Solistin. Maré verpflichtete sein Ensemble mit Dreijahresverträgen, um von Paris aus Gastpielreisen durch Europa und Amerika zu veranstalten.

Das schwedische Ballettensemble Les Ballets Suédois (1920-1925) war nach Ballets Russes das zweite große private Tournee-Tanztheater weltweit. Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass es nach dem 2. Weltkrieg von derartigen Tanztruppen auf der Welt nur so wimmelte. Sprechbühnen agieren meist nur an einem Ort oder einer Region. Tänzer sind dagegen nicht nur buchstäblich in ständiger Bewegung. Das hat natürliche Gründe. Sprechtheater wird durch die Sprache begrenzt, die Sprache des Tanzes ist universal, es gibt keine Sprachbarrieren. Ein großer Künstler kann in der Ballettwelt seine Nationalität ohne weiteres ändern. Carina als indische Tempeltänzerin, 1920Genau das tat Carina Ari. Das Mädchen aus der Stockholmer Altstadt verwandelte sich in einen französischen, einen pan-europäischen Star.

Alles ging nun schnell. Man wurde sofort auf sie aufmerksam, stärker als auf alle anderen des Ensembles. Der Choreograph Jean Börlin, ein bedeutend größerer Künstler, wurde dagegen in Frage gesetzt. Die genialen, radikalen Neuschöpfungen waren keine leichte Kost und Börlins Wert wurde nicht von jedem verstanden.

Für Carina, die Tänzerin, war Börlins Schaffen eine Plattform für das Aufzeigen der interpretierenden Vielfalt, deren sie fähig war. Carinas Register war breit, breiter als das der meisten Ballerinas. Sie hatte den klassischen Tanz von Grund auf gelernt und trainiert, doch sie war ebenso geprägt von Fokines Neoromantik (deutlich z.B. in Chopiniana). Sie beherrschte auch die grotesken Facetten des Expressionistischen, wie in Maison des Fous (Das Irrenhaus), das Volkstümliche (Nuit de St.Jean) und das surrealistisch Ironische (Mariés de la Tour Eiffel). In allen Darstellungen war Carina gleichermaßen schön, sinnlich und im rechten Augenblick charmant humorvoll.


Der Vertrag

Rolf de Maré hatte die Tänzer seines Ensembles für ganze drei Jahre unter Vertrag genommen, wobei diese auch in den Spielpausen ihr volles Gehalt ausbezahlt bekamen. Nur einige wenige staatliche Bühnen boten ähnlich sichere und großzügige Bedingungen. Dass ein Impresario solche Verträge machte, war äußerst generös. Noch heute ist üblich, dass die Tänzer für eine bestimmte Anzahl von Vorstellungen, die die Leitung organisieren konnte, engagiert werden. Zwischen diesen Anstellungszeiten müssen die Künstler selbst zusehen, wie sie sich versorgen (in den USA oft sogar durch kellnern).

Zeiten der Arbeitslosigkeit gehören zum Leben der meisten Tänzer. Das Ensemble des Ballets Suèdois konnte sich dagegen in den Sauregurkenzeiten bei vollem Gehalt nach Lust und Laune Urlaub und Entspannung gönnen.

Eines Tages bekam Carina ein Angebot, die Hauptrolle in einem deutschen Film zu übernehmen. Sie nahm an, da die Dreharbeiten in den Ballettferien geplant waren. Als sie dies ganz arglos in einem Gespräch mit Rolf de Maré erwähnte, reagierte er mit Empörung. Sie war ganzjährig bei ihm angestellt und hatte keine andere Arbeit anzunehmen. Fast kam es zu einem Prozess, doch Carinas Anwalt riet ab. Sie musste den Filmvertrag auflösen. Die Rolle ging an eine andere. Sie hieß Pola Negri und ihr Weltruhm begründete sich just auf diesen Erfolgsfilm. Diesen Weltruhm hätte Carina haben können. Der Erfolg eines Filmstars ist ungleich größer als der einer niemals so im Vordergrund stehenden Tänzerin, besonders in finanzieller Hinsicht.

Carina trug es de Maré lange nach, dass er ihr diese Chance vereitelt hatte. Später, als sie selbst eine reiche Dame geworden war - viel reicher als Maré - hatte sich ihre Wut auf ihn gelegt. Doch wenn sich die Gelegenheit für einen Seitenhieb bot, so wischte sie ihm gerne eins aus. Ihr Elefantengedächtnis ließ sie allerdings auch nie einen Freund vergessen!

Carina verließ das Schwedische Ballett so schnell es ging, und ließ sich bis dahin krankschreiben. Sie hatte tatsächlich Gichtbeschwerden, doch die setzten zumeist dann ein, wenn es ihr nicht ungelegen kam. Im allgemeinen war Carina Zeit ihres Lebens kerngesund und mit unermüdlicher Vitalität ausgestattet.

Inghelbrecht


Bei der Auseinandersetzung mit Rolf de Maré bekam Carina Ari Unterstützung durch den Kapellmeister des Ballets Suédois, Desiré-Émile Inghelbrecht. Dieser war ein Lieblingsschüler von Debussy und sollte in Frankreich noch einer der größten Dirigenten des Jahrhunderts werden.

Inghelbrecht war mit der Tochter Steinlens verheiratet (der das Bühnenbild für Iberia des Ballet Suédois kreiert hatte). Doch die Ehe war bereits zerrüttet und Carina nahm den Platz der Madame Inghelbrecht ein.

27.6.1925 - Matinée um 15 Uhr...Im Herbst 1924 wurde Inghelbrecht musikalischer Leiter an der Opéra Comique, der zweiten Staatsbühne in Paris, die auf dramatische Opern der mittleren Größe, wie z.B. Carmen, spezialisiert hatte. Carina Ari arbeitete mehrere Jahre an einem abendfüllenden Programm, mit sich selbst als alleinigem Interpreten.

Das war so üblich in dem neuen Genre "Moderner Tanz" (auch genannt Freier Tanz, d.h. befreit von dem klassischen Regelwerk). Aber vor Carina Ari hatte sich noch keine klassische Tänzerin darin versucht. Carinas Terminkalender war, wie bei allen "Freien", nicht überfüllt. Feste Engagements hatte sie nur für relativ kurze Perioden in ihrer Karriere.

Jean Börlins Schaffen war seiner Zeit weit voraus und wurde auch in historischer Perspektive bis zur Ära von Pina Bausch und Alvin Nikolai nicht vollends verstanden. Obwohl Carina die Neuschöpfungen Jean Börlins ausführte, fühlte sie sich im Grunde immer wie eine klassische Ballerina.

Sie war in jeder Hinsicht ein hingebungsvoller Lehrling von Fokine. Das galt auch den praktischen Seiten seiner Reformen: Programme zu schaffen, die so abwechslungsreich waren, dass sie die neue Rastlosigkeit des zwanzigsten Jahrhunderts zufrieden stellten. Die abendfüllenden Werke des vorausgegangenden Jahrhunderts, wie Die Bajadere, Der Korsar, und sogar Dornröschen waren Novellen, die mit literarischer Akribie einen komplizierten Handlungsverlauf zu erzählen suchten. Nur wenige waren so poetisch oder psychologisch ausdrucksvoll, dass die Zuschauer von der Handlung wirklich ergiffen wurden (z.B. Schwanensee, Giselle).

Fokines Idee war genial einfach: Ein Ballett darf nicht länger als notwendig sein! Ein Akt reicht meist aus, um auszudrücken, was zu sagen ist. Eine Sammlung kurzer Ballette ermöglicht mehr Abwechslung. Das Programm der Ballets Russes bestand in der Regel aus kurzen Stücken, und auch Börlins Repertoir für Ballet Suédois folgte diesem Konzept. Einen erheblichen Anteil am Erfolg dieser Pionierarbeiten hatten die ausdrucksstarken Bühnenbilder, die für jedes Werk einzeln entworfen waren. Das Publikum kam gar nicht dazu, eines Szenarium müde zu werden, da schon beizeiten das nächste folgte.

Carina Ari nahm sich das zu Herzen. Im Gegensatz zu den dekorationsarmen Szenen beim freien Tanz, die nach Isadora Duncans Fasson mit dunklen Vorhängen drapiert waren, ließ Carina für jeden ihrer Solotänze ein eigenes aufwendiges Bühnenbild anfertigen. Sie war mit vielen hervorragenden Malern befreundet; Grünewald, Moureau och Dethomas schenkten ihr eigene Szenenbilder. Zum Freundeskreis von Inghelbrecht gehörten Komponisten, wie Honegger, Reynaldo Hahn und Florent Schmitt. Von diesen und von Inghelbrecht selbst stammte die Musik. Sie tanzte unter der Begleitung eines 40-köpfigen Orchesters, geleitet von Inghelbrecht - und nicht in Begleitung eines einsamen Pianisten, der Besetzung, mit der sich ihre Kollegen üblicherweise zu begnügen hatten. Carina hatte die Uraufführung ihrer acht "getanzten Szenen" 1925 an der Opéra Comique.

Rêve ("Traum"), 1925Zuerst Rêve ("Traum"), eine poetische Idealisierung über die Sehnsucht, eins mit dem Baum in der Natur zu werden. Dann folgte Sous-marine ("Auf dem Meeresgrund"), eine Unterwasserszene mit wiegenden Algen, die ums Überleben kämpfen. Danach folgte Le Retour interrompu ("Vor der Herberge"), einer Spielszene vor der Herberge in einem spanischen Dorf. Ein vorbeikommendes Mädchen hält inne, als sie Musik durch das Fenster wahrnimmt, und tanzt für sich allein, um dann im Dunkel der Nacht zu verschwinden. Degas war der Titel einer humoristischen Beschreibung, wie eine klassische Tänzerin übt, mit einem Bewunderer flirtet, einen preziösen Tanz ausführt; Satire auf die Maniriertheit einer Ballerina. Die Szenographie zu La danse pour les oiseaux ("Tanz für die Vögel") stammte von Carina selbst.

In diesem Ballett verwendete Carina den klassischen Still ernsthaft, veranschaulichte Vögel und deren Bewegungen. Musique sur l'eau ("Musik auf dem Wasser") beschrieb sowohl Wellenbewegungen als auch das Zusammenspiel einer Seejungfrau mir ihren beflügelten Schwestern, den Schwänen. La danse d'Abisag ("Abizags Tanz") beruht auf einer biblischen Erzählung. Eine Jungfrau entsteigt einer byzantinischen Mosaikmauer und tanzt für den alten König David; in kubistischen, kantigen Bewegungen, enthaltsam und urtümlich war dieses Stück vielleicht die eigenwilligste Stilstudie des gesamten Programms. Als leichter Abschluss kam dann Kajsa et Britta ("Kajsa und Britta"), eine Bagatelle zum Thema "Kleider machen Leute". Ein armes Mädchen darf sich das Kostüm eines reichen Mädchens leihen und sieht sich plötzlich von allen Herren umschwärmt.

La danse pour les oiseaux ("Tanz für die Vögel"), 1925Dies war ein recht kompliziertes Programm und auch in der praktischen Umsetzung machte es sich Carina damit nicht einfach. Sie wollte es vermeiden, zwischen den Nummern Pausenmusik spielen zu lassen. Daher musste jeder Szenenwechsel blitzschnell vonstatten gehen und für den Kostümwechsel gab sie sich selbst nicht mehr als zwei Minuten. Hierfür wurde jedes einzelne Detail genauestens berechnet und die Konstruktion der Kostüme wurde immer wieder neuen Versuchen unterworfen. Doch noch mehr Konzentration als diese mechanische Geschwindigkeit beanspruchte der pausenlose mentale Wechsel von einer Gefühlswelt zur anderen.

Mit dieser Leistung weckte Carina große Begeisterung. Sie führte ihre "Scènes Dansées" noch lange Jahre immer wieder wieder als Gastvorstellung in Paris und Europa auf. Dazu begleitete sie Inghelbrecht in einer Art Solotournee, der an jedem der Orte ein neues Orchester einzustudieren hatte.

Die Ode an die Rose

Carina bekam 1927 den ehrenvollen Auftrag, eine Choreographie für ein speziell zusammengestelltes Ensemble zu schaffen, das bei einem Festakt im Pariser Präsidentenpalast auftreten sollte. Sie wählte den Titel Ode à la Rose nach einem Gedicht von Ronsard. Es war eine poetische Würdigung an die Blume aller lyrischen Liebesdichtungen. Carina Ari verlegte sich auf eine subtile, fast abstrakte Darstellung der Gefühle.

Nach der allseits gerühmten "Rose" bekam Carina den Auftrag für eine Choreographie an der Großen Oper von Paris, genannt Palais Garnier. Das französische Opernballett war seit der Jahrhundertwende in eine künstlerische Flaute geraten. Es hatte den Anschluss an die Russen und die Schweden verpasst, war in sich erstarrt und einfach nicht mehr zeitgemäß, geringschätzt nicht nur vom Publikum, sondern auch von seiner eigenen Direktion. Daher wurden das Opernballett lediglich benutzt, um Opernabende zu strecken, die etwas zu kurz waren. Erst 1930, als Serge Lifar die Leitung des Pariser Opernballetts übernahm, kam es zu einem Aufschwung, zu neuer, dauerhafter Größe.

Einen Vorgeschmack lieferte Carina 1928 mit ihrem Ballett Claire de Lune ("Der Mondstrahl"). Sie hatte den richtigen Zeitpunkt erwischt - die Tänzer beherrschten die klassische Technik noch bis zur Vollendung. Jetzt musste mit der richtigen Choreographie neues Leben eingehaucht werden. Carina legte Claire de Lune als reines "choreographisches Gedicht " an und stellte außerdem auch gleich eigenhändig das Bühnenbild her. Es existieren noch eine große Anzahl von Skizzen für diese Arbeit. Sie bereitete die Aufbauten vor und markierte die Gänge der Tänzer im Raum nahezu detailliert, sogar die Bewegungsabläufe wurden eingezeichnet.

Carina als Blauer Berg in "Claire de Lune", 1934Inghelbrecht suchte mit großer Feinfühligkeit Kompositionen von Gabriel Fauré aus und instrumentierte diese selbst. Das Ballett hatte bis zu einem gewissen Grade "Inhalt", doch wurde dieser sehr abstrakt dargelegt, es waren mehr Visionen, Andeutungen und Einfälle als eine konkrete Erzählung: Eine Art milde Rivalität herrscht zwischen dem Mondstrahl und der Tochter des Blauen Bergs um einen Jüngling. Mondstrahl gelingt die Eroberung des Jünglings, doch sie besinnt sich eines Besseren und überlässt ihn der Bergtochter, die einen gerechteren Anspruch auf ihn hat. Winde und Nebelschleier gleiten in hellen und dunklen Nuancen über die Bühne, alles zur einem raffinierten Lichtwechsel (kreiert vom Opernchef Rouché persönlich). Claire de Lune ist Les Sylfides von Fokine verwandt, hat aber mehr Sinnlichkeit.

In der Geschichte des französichen Balletts gibt es bemerkenswert wenige weibliche Choreographen. Von diesen wenigen sind zwei in Stockholm geboren: Marie Taglioni mit ihrem einzigen Ballett Le Papillon (1860) - und Carina Ari mit Claire de Lune 1928.

Claire de Lune wurde ein eklatanter Erfolg in Carinas ohnehin eindrucksvoller Laufbahn. 1934 gab es eine Wiederaufnahme, und dann in der großen Oper selbst. Carina passte die Hauptrolle für Olga Spessivtseva (eine der größten Tänzerinnen aller Zeiten) an, doch als diese kurz vor der Premiere verunglückte, gab es niemanden, der diese Choreographie tanzen konnte - außer Carina selbst, was sie dann auch tat.

Kurzes Gastpiel in Algier


Das Opernhaus in Algier bedurfte anfangs der dreißiger Jahre einer gründlichen Erneuerung - vor allem in künstlerischer Hinsicht. Da Carina in der Branche hohes Ansehen genoss, wurde sie als Ballettmeisterin engagiert, und Inghelbrecht übernahm selbstredend die musikalische Leitung der Oper.

In Algier lebte die Oper von einem gutsituierten, konservativen und rückständigen Publikum, das sich aus der französischen Oberklasse zusammensetzte. Inghelbrecht, einem erklärten Gegner jeglicher Form von Rassismus, gelang es, sich praktisch sofort mit den meisten Leuten seiner Umgebung anzulegen, und er kehrte in wilder Empörung nach Paris zurück. Carina hatte bereits große Anstrengungen in die Umstrukturierung des Ballettensembles investiert und auch schon einige Tänzer vom Königlichen Dänischen Ballett in Kopenhagen rekrutieren können. Allein in der ersten Saison schuf Carina sechs eigene Ballettwerke, zusätzlich zur Neuchoreographierung sämtlicher Ballette des Opernrepertoirs.

Nach einem Jahr der Überanstrengung kehrte sie krank und geschwächt zu Inghelbrecht nach Paris zurück. Die beiden erhielten 1932 ein festes Engagement an der Opéra Comique, er als Musikchef, Carina Ari als "Étoile" (d.h. "Star"-Tänzerin auf gleicher Stufe der Primaballerina an der großen Oper), und gleichzeitig als Ballettmeisterin. Sie hatte mit der Umarbeitung aller Tanzeinlagen der Opern viel zu tun, da dies in der Praxis bedeutete, die gesamte Choreographie neu zu bauen. Die Presse rühmte ihre Arbeit als "Meisterwerke von Geschmack und Verstand". Doch nach wie vor verstummten die Stimmen nicht, die Ballette an der Opéra Comique als überflüssig betrachteten. Trotzdem konnte Carina durchsetzen, dass ein Balletwerk aus Brahms-Walzern geschaffen wurde. In seinem fast abstrakten, klassischen Stil sollte Balanchine 30 Jahre später etwas ganz ähnliches inszenieren.

Alles fließt in der Welt des Balletts


Anfang der 1930er Jahre war man immer noch nicht von dem alten System abgekommen, Männerrollen durch ältere, kräftigere Tänzerinnen in Travestie darstellen zu lassen. Carina Ari, die Männer in jeder Beziehung mochte, verabscheute dies.

Sie gab bekannt, Gleichgesinnte zu suchen, insbesondere einen Partner für sich selbst. Balanchine meldete Interesse an, doch er bekam einen Korb. Er war nie ein besonders guter Tänzer gewesen, doch aus ihm sollte noch einer der größten Choreographen seiner Epoche werden. Statt Balanchine wählte Carina Boris Kniaseff zum Tanzpartner. Er war ganz einfach ein besserer Tänzer. Viel später wurde er ein berühmter Pädagoge.

Dies erinnert uns an eine Seite von Carinas Schaffen, die nahezu vergessen wurde. Sie war ein sehr geschickter Pädagoge. Wie bereits erwähnt, konnte Sie Privatlektionen des Meisters Fokine bekommen, nachdem sie den altfranzösischen Stil in der Stockholmer Opernschule von der Pike auf gelernt hatte. Und sie hatte Talent, erlerntes weiterzugeben. Carinas "Second in command" an der Opéra Comique war Mauricette Cébron, eine erfahrene Tänzerin. Sie folgte Carinas Methodik und übernahm den täglichen Unterrricht, wenn Carina verhindert war. Mauricette Cébron verließ die Opéra Comique 1934, um an die Pariser Oper zu gehen. Dort wirkte sie ein viertel Jahrhundert lang als Tanzpädagoge. Alle berühmten französischen Stars begannen bei ihr und gingen durch ihre "Schule". Die Schule begründet sich auf einem System, das Carina Ari geschaffen hatte, die ihrerseits die russische Schule Fokines erlebte und diese wiederum war beeinflusst von französischen und später italienischen Stilen. So fließt das Leben in der Welt des Balletts. Carina war ein nicht unbedeutendes Glied in dieser kreativen Kette.

Inghelbrecht und Carina Ari blieben nicht lange an der Opéra Comique. Carinas Neuinszenierung von Claire de Lune erfolgte an der großen Pariser Oper und anschließend an der Stockholmer Oper (1935). Im darauf folgenden Jahr hatte sie in Stockholm die Uraufführung des Balletts Eva (Evas Metamorphosen) - einer Kavalkade von Evas quer durch die Geschichte. Den Solisten des Opernballetts wurden hier dankbare Rollenstudien geboten.

Teddy Rhodin, der Erste Tänzer im Opernballett, vermerkte in seinen Memoiren: "Niemals habe ich einen solch schönen Menschen wie sie gesehen".

Ein weiteres Jahr später, kurz vor Sylvester 1937/38 brachte Carina Ari die Ode an die Rose an die Stockholmer Oper, beträchtlich erweitert, und die drei Werke reichten nun für einen ganzen "Carina-Ari-Abend".

Danch sollte es ein Vierteljahrhundert dauern, bis sie in ihrer Geburtsstadt wieder eine Choreographie aufführen würde. Dies würde eine Rekonstruktion von Jean Börlins De Fåvitska Jungfruarna (Die törichten Jungfrauen) werden, rekonstruiert aus dem, woran sie sich noch erinnern konnte. Ihre eigenen Choreographien hatte sie inzwischen total vergessen. Das ist bei Choreographen nicht gerade ungewöhnlich.

Carina Ari, Serge Lifar, Paul Goubé
Carina Ari, Serge Lifar, Paul Goubé

Le Cantique des Cantiques

Im Paris der dreißiger Jahre stand noch eine schwierige Aufgabe bevor. Serge Lifar hatte ein Ballett im Sinn, das Motive aus dem biblischen Hohelied behandelte: Le Cantique des Cantiques (Das Lied der Lieder). Lifar brauchte einen Partner für die Hauptrolle, die er selbst tanzte.

Das Werk war eines von Lifars modernistischen Experimenten. Die Zeit dafür war eigentlich bereits vorbei. Den Höhepunkt hatte der Modernismus in Paris in den Zwanzigern mit Ballets Russes und Ballets Suédois und allen "...ismen" die in dieser Zeit unbekümmert aufblühten. Der von vielen mit bösen Vorahnungen befürchtete Krieg sendete 1938 bereits seine Vorboten in Gestalt einer lähmenden, eiskalten Atmosphäre aus. Immer weniger Künstler und Modelle waren im einstmals kunterbunten Café Dôme anzutreffen. Nur im Ballett merkte man nichts - bis zu allerletzt.

Die Musik für Cantique des Cantiques lieferte Arthur Honegger, der hauptsächlich Schlagzeug einsetzte. Für die schöne Sulamit brauchte man eine geschickte, klassisch ausgebildete Tänzerin, die sich aber auch darüber hinwegsetzen konnte und sich intuitiv und sinnlich "frei" zu bewegen verstand. Lifar fand niemanden, der diese Qualitäten so wie Carina Ari mitbrachte. Er choreographierte das Werk nur in groben Zügen. Seine Absicht war, dass er selbst improvisieren würde und damit eine besondere Spannung, einen schöpferischen Moment auf offener Bühne erreichte. Carina hatte davon keinen blassen Schimmer. Dann führte Lifar beim großen Pas de deux plötzlich ganz andere Schritte und Bewegungen aus, als die gemeinsam einstudierten. Was sollte sie nun unternehmen? "Man kann doch nicht dastehen und sich nur vom Publikum anglotzen lassen!" Mit Todesverachtung choreographierte sie sich selbst zu ihrem tänzerischen Gegenüber. Der nachfolgende Streit handelte hauptsächlich davon, wer mehr expressionistisch sein konnte.

Rhythmisch und musikalisch war Carina nicht zu schlagen. Das Publikum reagierte euphorisch und die Rezensionen lobten die Tänzerin - etwas mehr als den Tänzer. Zu guter Letzt gewann Lifar den Wettstreit. Cantique des Cantiques ging als eines seiner größten Werke in die Tanzgeschichte ein. Nach acht Vorstellungen hatte Lifar genug und er setzte das Ballett ab. 1939 führte Carina ihre "Scènes dansées" an der Opéra Comique noch einmal auf. Es war ihr Schwanengesang.

Einen Dompteur zum Mann


Der Abschied von der Bühne ist die schwerste Zeit im Leben einer Tänzerin. Es ist viel schwerer als für andere Künstler. Carina war ja noch so jung, gerade über 40, eine Frau im besten Alter. Aber es ist ganz normal und unausweichlich, dass die Muskeln sich gegen das Verlangen der Seele, zu tanzen, auflehnen.

Carina war wie alle richtigen Tanzkünstler extrovertiert und exhibierend. Ihre langjährigen Erfahrungen und das schon seit frühster Jugend angeeignete Können war ein Teil ihres Wesens geworden. Dazu gehörte auch, gleichzeitig tausend Augenpaare auf sich zu ziehen, Macht über die Gefühle der Zuschauer zu üben, Männer und Frauen, junge und alte zu faszinieren, zu verführen.

Auf dem Höhepunkt des Wirkens nahm dies alles ein abruptes Ende. Es ist wie ein Vorgeschmack auf den Tod, obwohl doch noch das halbe Leben bevorsteht. Der bloße Gedanke an den Tod versetzte Carina in panischen Schrecken.

Das Ende einer Tänzerkarriere ist immer eine Zeit der tiefsten Verwundbarkeit. Nun braucht man vor allem die Liebe und Fürsorglichkeit eines Lebenspartners. Doch gerade in diesem Punkt sah es schon seit einiger Zeit schlecht aus. Inghelbrecht, der für keine seiner Frauen eine besondere Emotion an den Tag gelegt hatte, wurde mit fast 60 Jahren zum ersten Mal von glühenden Liebesgefühlen heimgesucht - ausgerechnet zu Carinas bester Freundin. Carina selbst war immer leicht entflammbar gewesen und ihre teils kurzen, teils länger dauernden "Affären" hatten Inghelbrecht nicht im Geringsten gestört. Er nannte Carina gelegentlich in nachsichtigem Ton "seine Tochter" (was sie rein altersmäßig auch hätte sein können).

Zum ersten Mal musste Carina erfahren, was Einsamkeit ist. Sie floh die mondäne Gesellschaft in Paris und begab sich zu einem kleinen, verschlafenen Kurort für Reiche, Aix les Bains. Sie redete sich selbst ein, an Muskelverspannungen zu leiden (was mehr psychosomatisch als real war, Carina hatte an sich eine Roßnatur). Wie üblich, fehlte es ihr an Geld. Sie hatte nie Rechnungen zu bezahlen gehabt; immer waren reiche und großzügige Freunde zur Stelle gewesen.

So auch nun. Eine Freundin hatte sie zum Dinner in einem der besten Kurhotels von Aix eingeladen. Carina war in ein langes weißes Kleid gehüllt und trug dazu einen kleinen roten Bolero (getragen mit der Carina eigenen Natürlichkeit, die geradezu alle Aufmerksamkeit auf sich zog). Schon ihr Entré in das Restaurang hatte es in sich. Die Kellner ließen beinahe das Tablett fallen. Noch schlimmer erging es einem unscheinbaren Gentleman an einem Nebentisch, der förmlich vom Blitz getroffen wurde. Nicht lange später war Carina sein Gast zum Abendessen. Er war nicht sehr mitteilsam, was seine Person betraf. Holländer, hochintelligent, befehlsgewohnt, doch gerade erschüttert dadurch, dass seine Frau ihn müde geworden war und die Scheidung eingereicht hatte.

Herr Moltzer war unscheinbar, klein wie Inghelbrecht, aber gut gebaut und muskulös, und sein kräftiger Kopf war markant. Er zeigte sich als recht verschwiegen und etwas geheimnisumwittert. Die wunderschöne Carina war, seitdem sie aufgehört hatte, zu tanzen, kurvenreicher geworden. Faszinierend ihre Aufrichtigkeit, Humor und Sinnlichkeit, und außerdem war sie großzügig mit dem, was sie hatte: Körper und Geist.

So fanden Sie einander. Um sie herum entfesselte sich die Katastrophe des zweiten Weltkriegs. Er fragte Carina ohne Umschweife, ob sie ihm nach Südamerika folgen würde. Eine Heirat war zunächst ausgeschlossen, da Moltzers noch-Frau von dem neuen Glück des verschmähten Gemahls Wind bekommen hatte und jetzt die Scheidung etwas in die Länge zog. 1942, nach kostspieligen Verhandlungen, war endlich die Scheidung durch, und Jan Moltzers dritter und Carina Aris zweiter Ehe stand nun nichts mehr im Wege.

Zwischenzeitlich hatte Carina einiges mehr über den neuen Mann in ihrem Leben erfahren. Er war ein Sohn eines niederländischen Industriellen und hatte das traditionsreiche Spirituosenimperium Bols geerbt. Moltzer hatte den Krieg, den Deutschland beginnen sollte, vorausgesehen. Vielleicht war er sich nicht sicher, ob er nach Nazi-Gesichtspunkten als arisch galt; jedenfalls nahm er seine besten Fabrikmeister mit sich zu der Niederlassung in Bueos Aires, und, während die europäische Industrie lahmgelegt war, belieferte von dort aus während der gesamten Kriegsjahre die freie Welt mit den echten, berühmten Bols-Likören und Schnäpsen. Seine zwei Söhne kamen unter der deutschen Besatzung Hollands ums Leben, und eine der beiden Töchter behielt immer einen guten Kontakt zu Stiefmutter Carina. Moltzer und Carina bekamen keine eigenen Kinder, doch es war eine harmonische Ehe, die beiden ein glückliches Jahrzehnt zusammen bescherte.

Carina gefiel es, einen Dompteur zum Mann zu haben, sie mochte "richtige" starke Männer. Moltzer war nicht besonders unterhaltsam, doch er war herzensgut. Carina wurde mit großzügiger Liebe überschüttet und reichlich mit Schmuck und Pelzen eingedeckt. Zögerlichkeit konnte er nicht ertragen. Waren Moltzers in einem Geschäft und Carina dabei, wie alle Frauen, die gesamte Konfektion durchzuprobieren, so riß Jan schnell der Geduldsfaden: "Willst du das, was du anhast? Sonst gehen wir jetzt und Schluß!" Carina lernte schnell, sicherheitshalber immer Ja zu sagen. Ein paar Tage später würde sie einen weiteren Pelz bekommen, falls der gerade gekaufte ihr doch nicht gefiel.

Carina war eine strahlende Gastgeberin in Moltzers herrschaftlichem Anwesen bei Buenos Aires. Sie hatte ein natürliches Pathos, war eine Primadonna durch und durch, und hatte trotzdem eine feine Bescheidenheit und ein hilfsbereites Herz für die Sorgen anderer.

Jan Moltzer verstarb 1951 mit nur 68 Jahren durch einen Herzinfarkt. Einen großen Teil des Vermögens, vor allem die Aktien des Bols-Imperiums, erbte die Witwe. Carinas Trauer war groß und sie vermisste ihren Jan schmerzlich. Sie war nun 54 und ging Zeit ihres Lebens keine Bindung mehr ein.

Der Tanz war bereits ein abgeschlossenes Kapitel. Wie viele andere Ballerinas verspürte Carina Lust an der bildlichen Formgebung, um den künstlerischen Drang zu beschäftigen. Sie studierte u.a. in New York und hatte den meisten Erfolg mit porträtähnlichen Büsten, oft von Freunden. Das bekannteste Werk ist die Büste des schwedischen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld, aufgestellt vor dem UN-Gebäude in New York und im Schloß von Uppsala, wo dieser in seiner Jugend wohnte.

Nach dem Tod des Gatten blieb Carina in Buenos Aires, wo sie viele Freunde gewonnen hatte und den Mittelpunkt eines regen Gesellschaftslebens bildete. Alle zwei Jahre unternahm sie eine Reise nach Europa. In Paris hielt sich sich weiterhin ihre reizvolle, kleine Atelierwohnung. Mitunter besuchte sie Schweden einen ganzen Sommer lang.


Die Stifterin


In ihrer Geburtsstadt Stockholm war Carina Ari gänzlich unbekannt, sieht man von ein paar persönlichen Freunden von der Vorkriegszeit ab. Seit ihrem letzten öffentlichen Tanzauftritt waren zwanzig Jahre vergangen, samt eines Weltkrieges, der die Geschicke so vieler Menschen einschneidend veränderte. Tänzer geraten schnell in Vergessenheit; vielleicht, weil die aktive Berufszeit so kurz ist, weil man so früh aufhört.

Um das Interesse der Massenmedien an Carina Ari zu wecken bedurfte es einer regelrechten Werbekampagne. Hatten die Presseleute dann Carina wiederentdeckt, war die Berichterstattung allerdings umfassender als je zuvor. Carina erfüllte das Dasein als allseits hofierte "Prominente" mit größter Genugtuung (und einer mit ihrem speziellen Humor getragenen Skepsis). Es fiel ihr nicht schwer, ein Medienobjekt zu sein - und ihr Charme blieb jedem, der sie traf, in Erinnerung - wobei die Journalisten keine Ausnahme machten.

Carina pflegte zu sagen, dass das Geld, das ihr in jungen Jahren geschenkt wurde, um Studien bei Fokine zu ermöglichen, die entscheidende Chance in ihrem Leben war. Nun wollte sie diese Wohltat an ihre Kollegen weitergeben. Carina unterschätzte die Kompetenz der schwedischen Tanzpädagogen keineswegs, doch der Tanz ist international und die Arbeit in anderen Metropolen und die Studien an Tanzschulen im Ausland sind eine wirkungsvolle Anregung und Abwechslung.

Sie gründete eine Stipendienstiftung. Freunde der Tanzkunst etablierten eine Verdienstmedaille in Carinas Namen, zu vergeben an Persönlichkeiten, die "der schwedischen Tanzkunst Ehre machen". Die Carina-Ari-Medaille wurde seit 1961 vergeben.

In Schweden gab es bereits ein einzigartiges Tanzmuseum, das in Gedenken von Rolf de Maré geschaffen wurde. Carina beriet sich mit mir, ob etwas derartiges auch in ihrem Namen geschaffen werden könnte - eine Institution, die für immer der Tanzkunst dienen könnte.

Was hätte wichtiger sein können, als eine große Bibliothek mit internationaler Literatur zum Tanz? So wurde die Carina Ari Bibliothek eingerichtet, die heute größte Forschungsbibliothek für Tanz in ganz Nordeeuropa. Sie ist recht gut mit Kapitalmitteln ausgestattet, um Bestandspflege und Neuerwerbungen durchzuführen.

Carina hatte nicht einen einzigen richtigen Verwandten. Von Mutterseite her lebte niemand und die Identität des Vaters war stets unklar geblieben. Bei einem ihrer letzten Besuche in Schweden erreichte Carina die Bitte, ein Krankenhaus im Hinterland aufzusuchen. Dort traf sie einen alten Mann auf dem Sterbebett. Was sie dort erfuhr, behielt sie für sich, doch ihre nahen Freunde glaubten, annehmen zu können, dass dies ihr Vater war, der Mann, der zeitweilig im Heim ihrer Mutter gewohnt hatte, als Carina klein war.

Carina hatte große Angst vor dem Tod. Doch sie sah ein, dass Sie Arrangements zu treffen hatte, was mit ihrem Vermögen zu geschehen hatte, wenn sie selbst eines Tages sterben würde. Ein Testament musste gemacht werden, das ihren Willen mit rechtlich für alle Zeiten gesicherten Formulierungen ausdrückte. Einer ihrer besten Freunde war der damalige Justizminister Herman Kling. Unter seiner Aufsicht ging der geschickteste Jurist, den der kannte, ans Werk. So begründete man eine neue Stiftung (neben der Medaillenstiftung und der Bibliothek), die als Universalerbe eingesetzt wurde. Die Carina Ari Gedächtinisstiftung konzentrierte sich auf drei Bereiche: Vergabe von Stipendien an junge Tänzer für Auslandsstudien, Unterstützung älterer Tänzer, besonders im Krankheitsfall, und schließlich die Förderung der Forschung über die Tanzkunst.

Im Herbst 1970 verunglückte Carina und trug einen Oberschenkelbruch davon. Für die Ärzte ein alltägliches Geschehen, aber Carinas Widerstandskräfte waren durch eine leichte Altersdiabetes angegriffen. Sie wurde operiert, doch die Wunde wollte nicht heilen. Nach einem langen Kampf hörte am Weihnachtsabend 1970 ihr starkes Tänzerherz auf zu schlagen. Sie ruht in Holland an der Seite ihres Mannes.

Bengt Häger

Bengt Häger, Carina Ari, 1966
Bengt Häger mit Carina Ari (1966)